erschienen in KP 33/2017

Noch einmal zur sozialen Bewegung

Angesichts des grassierenden Theorieverfalls, der selbstverständlich seine hässlichen Auswirkungen auf die politische Praxis haben muss, ist es vielleicht angebracht, sich Standpunkte und Ziele wieder zu vergegenwärtigen – gerade auch im Hinblick auf den 100. Jahrestag der Russischen Revolution.

Die marxistische Linke, TheoretikerInnen und AktivistInnen, war immer damit konfrontiert, dass sie mit den Begriffen der Klasse und der Arbeit hantieren musste. Sehr früh setzte dabei – noch zu Lebzeiten von Marx – eine inhaltliche Reduzierung dieser beiden Begriffe ein. Mit Klasse wurde die europoäische und amerikanische Industriearbeiterklasse identifiziert, ohne zu beachten, dass der Marx’sche Begriff des Proletariats wesentlich mehr umfasst als die Lohnarbeiterschaft und vor allem ein gesellschaftliches Verhältnis beschreibt. Was aber in diesem Zusammenhang mehr wog und schlimmere Folgen zeitigte, war, dass der Zusammenhang zwischen der metropolitanen Industriearbeiterschaft und dem Imperialismus, der sich daran machte, seine Lebens- und Produktionsweise weltweit und gewaltsam durchzusetzen, größtenteils nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Dass die Entstehung eben dieser sozialen Schicht Resultat eines Kapitalismus war, der weltweit agierte und für diese beschränkten Teile des Proletariats Einkommensgarantien und Teilhabe an Wohlstand und Politik wenigstens bis zu einem gewissen Ausmaß versprach, war für die politischen Vertreter der organisierten sozialdemokratischen Standesbewegung genug. Nicht Kampf gegen die Arbeit und gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Formen von Herrschaft durch Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft und Ausschluss vom Eigentum an Produktionsmitteln hervorbrachten, standen auf der Tagesordnung, sondern die bürgerlich-gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit; also ein politisches Klassenbewusstsein, das sich eher an handwerklichen und zünftlerischen Traditionen sowie am Lebensstil des Bürgertums orientierte.

So konnte in der Arbeiterschaft ein von Standesinteressen und von nationalen Konkurrenzen geprägtes politisches Verhalten um sich greifen, das auf Emanzipation ausgerichtet war: also auf Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft als vollwertige StaatsbürgerInnen. Vieles an dieser politischen, oft genug auch noch militanten Aktivität führte zwar zu einer Verbesserung der Einkommens- und Lebensverhältnisse, orientierte sich aber typischerweise an der bürgerlichen Lebenswelt.

So war der Kampf gegen Kinder- und Frauenarbeit nicht nur gegen Armut und Elend gerichtet, sondern auch der Durchsetzung des bürgerlichen Familienstandards gewidmet. Dass „meine Frau nicht arbeiten gehen muss“, gilt für den standesbewussten Proletarier noch immer als Zeichen von Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung. Die ideologisch recht plumpe Argumentationsfigur von der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, die heutzutage noch immer bemüht wird, spricht da eine beredte Sprache. Weibliche Arbeit hat eben immer noch etwas mit karitativer Tätigkeit, gesellschaftlichem Engagement oder emanzipativer Selbstverwirklichung zu tun – oder mit blanker Notwendigkeit, um der Armut zu entgehen.

Jedenfalls wurde die Emanzipation der Arbeiterbewegung nur in den seltensten Fällen unter dem Aspekt der Umwälzung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Verhältnisse diskutiert. Eine wichtige Ausnahme machte die bolschewistische Fraktion der russischen Sozialdemokratie, die das Standesbewusstsein der Industriearbeiter direkt als nicht revolutionär ansprach. Lenin bezeichnete es als „trade-unionistisch“, was sich direkt auf die Verbesserung der Einkommen und Arbeitsbedingungen als hauptsächliche Ziele bezog, und stellte dem die Revolutionäre gegenüber, die ihre Legitimation aus philosophischen, historischen und wissenschaftlichen Gründen herleiteten und die Überwindung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse auf ihre Fahnen geschrieben hatten.

Es ist hier nicht der Ort (der Ort doch, aber nicht der Platz), das Scheitern dieser gewaltigen Ansprüche zu beschreiben und die Gründe dafür zu erhellen. Es ist aber hier der Ort darauf hinzuweisen, dass die Aufgabe der Kategorien Klasse und Arbeit, wie wir sie in der theoretischen Aufarbeitung der letzten Jahrzehnte (so weit hier der Ausdruck theoretisch überhaupt angebracht ist, wenn diese Art der Exegese auch auf akademischem Grund und Boden betrieben wird) erleben, eigentlich nur die Fortführung der Marx-Verbalhornung ist und die Weigerung, die philosophisch revolutionären Schlussfolgerungen von Marx nachzuvollziehen. So darf es nicht Wunder nehmen, dass all die revolutionären Anstrengungen, all die antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfe und all die menschlichen Opfer dabei zu nichts anderem führen sollten als zu bürgerlichen Nationalstaaten: von Russland über China bis Cuba, Algerien und Südafrika.

Klassenkampf wurde dabei als Auseinandersetzung innerhalb des bürgerlich-kapitalistischen Horizonts verstanden und geführt, als Anstrengung unterdrückter Subjekte mit dem Ziel der Emanzipation; nicht aber als Kampf gegen eine Gesellschaft, die die Menschen in Klassen organisiert. Eine besondere revolutionäre Rolle des Proletariats wurde dabei gar nicht mehr thematisiert, der Bezug darauf als legitimatorisches Anhängsel der Emanzipationsbewegungen oder als deren ideologisches Maskottchen behandelt. Die Theoretisierung dieses Aufgebens Marx’scher Analysen und Forderungen (von Lenins Absterben des Staats war ja längst keine Rede mehr) hatte auch nicht lange auf sich warten lassen.

Die trotzkistische Reaktion beispielsweise auf die Erfahrung des Pariser Mai war zumindest in der Mehrheitsorganisation des Vereinigten Sekretariats dergestalt, vom Konzept der proletarischen Klassenpartei abzurücken. Begründet wurde die Hinwendung zu den „objektiv antikapitalistischen Bewegungen“ in Theorie und Praxis damit, dass man sich nicht auf sektiererische Weise den sozialen Bewegungen verschließen wolle oder könne.

Ebenso hatte die um die Zeitschrift „quaderni di terzo mondo“ gruppierte marxistische Tendenz (die bekanntesten Vertreter waren Antonio Carlo und Umberto Mellotti) in den 1970er Jahren überall dort schon Sozialismus gesehen, wo nur nationaler Befreiungskampf die politischen Bewegungen dominierte und oft genug (und auch schnell genug) in simple Bürgerkriege um den neuen Zugang zur Herrschaft überging.

Andere Strömumgen im Gefolge der Kämpfe von 1968, aus denen sich der so genannte „autonome Marxismus“ entwickeln sollte mit seiner schon recht populären Galionsfigur Tonio Negri, nahmen in Theorie und Praxis die Abkehr vom Proletariat auf, ersetzten das Proletariat durch die amorphe Menge (multitude) und verkündeten, der Kommunismus stünde schon vor oder gar in der Tür.

Erleichtert worden war dies alles durch die Desavouierung des Parteikommunismus und seiner nationalstaatlichen Politik zu Gunsten der UdSSR. Ebenso trug dazu bei, dass in der westlichen Arbeiterbewegung Teilhabe an Politik und Wohlstand des Nationalstaats, also die Verbesserung der Lebensumstände der Industriearbeiterschaft, schon für Sozialismus ausgegeben wie auch diese empirische Industriearbeiterschaft mit dem Marx’schen Proletariat gleichgesetzt wurde. Keine Rede mehr davon, dass „industrielle Reservearmee“ ebenso Proletariat war wie „Lumpenproletariat“ und deklassierte Handwerker und enteignete Bauern.

Dafür war die Rede von der Verbesserung der aktuellen Lebensverhältnisse und von der Suche nach neuen, diesem reduzierten und angepassten Politikverständnis entsprechenden Organisationsformen. Der Weg von Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung, Naturschutz- und Umweltbewegung, aber auch der Frauenbewegung hin zu den zahlreichen NGO, die mittlerweile integrierter Bestandteil und Akteur bürgerlicher Politik sind, war nur logisch.

Unter diesen Umständen war es kein Wunder, dass die Theoretisierung sozialer Bewegungen als antikapitalistisch (was im Übrigen auch der NSDAP nachgesagt wurde) zum moralischen und intellektuellen Niedergang der Linken, ausgehend von ihrem radikalen Rand, beitrug. Heute werden unter enttäuschten Linken ernsthaft Figuren wie Emmanuel Macron in Frankreich oder Peter Pilz in Österreich als politische Alternative diskutiert oder wenigstens als Phänomen, dass neuen Wind durch die verkrustete politische Landschaft wehen zu lassen verspricht. Ausgeblendet wird dabei, dass diese Art von Mobilisierung in der Politik nichts auf die Fahnen geschrieben hat, das nicht schon längst dort steht: Nationalstaat, was umso leichter gelingt, als die Linke, die aus dem Stalinismus stammt, sich ohnehin als national versteht; Verschleierung der Klassenverhältnisse, was umso leichter gelingt, als die Linke ohnehin den Bezug auf die Klassen (als abstrakte Vergesellschaftungsformen, als Proletariat und Kapital – nicht als Unternehmer und Arbeiter) gerade noch in der Verteidigung des Sozialstaats wahrnimmt; Verwilderung und Individualisierung des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses, was umso leichter fällt, als sich selbst rechtsradikale Männerrechtler zur Verteidigung der weißen Frau aufmachen (auch nichts Neues) und geschlechtsneutrale Stellenausschreibung sogar eine EU-Richtlinie ist. Und so weiter.

Es tut also Not, sich wieder auf die Marx’schen Hauptsachen zu besinnen: Kampf gegen die Existenz von Klassengesellschaft, nicht Parteinahme für eine soziale Schicht innerhalb der Klassengesellschaft; Kampf gegen Geld und Arbeit, nicht um Umverteilung und höhere Löhne. Dies kann aber klarerweise nicht bedeuten, dass alltägliche Kämpfe wie gegen rassistische und sexistische Übergriffe oder gegen den Rückbau von Sozialstaat und Arbeitsgesetzgebung einzustellen wären. Auch Marx hat in Alltagskämpfe um die Verbesserung von Lebensbedingungen eingegriffen; er hat aber nicht deswegen die Arbeit am „Kapital“ eingestellt. Wir sollten es lesen, auch um uns wieder daran zu erinnern, was Kapital, was Proletariat, was Bourgeoisie bedeutet.

Daneben wird es notwendig sein, sich auch über die Organisationsformen Gedanken zu machen, die einem elaborierten Klassenbegriff und den damit verbundenen Interventionen entsprechen. Dabei kann es nicht um Kommunikationstechniken gehen, die auf Menagerseminaren zur Menschenführung genauso eingeübt werden wie auf Plena von linken Vereinigungsversuchen, aber auch nicht um das Hohelied von Hierarchie und Zentralisierung, das in den verbliebenben Sekten der Arbeiterbewegungsmarxismus angestimmt wird. Eher wird es um Verlage, Medien, Magazine (wie das vorliegtende) und Zeitschriften gehen, die eine intellektuelle und intelligente Front gegen die falsche Verwendung Marx’scher Kategorien und Begriffe eröffnen, und nicht unbedingt darum, Sitze und Plätze in der repräsentativen Demokratie einzunehmen. Eine Organisierung zur Kritik der Gesellschaft also, zum Nachweis ihrer Dysfunktionalität und zur Propagierung ihrer Überwindung – dies steht dann vielleicht in einem anderen Beitrag …